Was Tech-Themen angeht, bin ich ein kleiner Nerd und so hat mich das Prinzip des „digital garden“ (externer Link) richtig gefesselt. Ein digitaler Garten ist ein experimentelles System zum persönlichen Wissensmanagement, ein kleines Wiki oder zweites Gehirn, um seine Ideen und Gedanken zu kultivieren und zu pflegen – wie in einem Garten eben.
Für mein neurodivergentes Gehirn, das vor Ideen nur so sprudelt, aber gleichzeitig schnell zu neuen, interessanteren Themen springt, klingt das Prinzip sehr verlockend.
Ein digitaler Garten kann eine private Sammlung an Wissen sein (ich nutze hier Obsidian (externer Link) – ebenfalls ein eher nerdiges, aber sehr tolles und empfehlenswertes Tool) oder ähnlich wie ein Blog funktionieren. Die Betonung liegt hier auf „ähnlich“, denn die Herangehensweise ist ganz anders.
Während ein Blog in chronologischer Reihenfolge fertige, in sich geschlossene Artikel veröffentlicht, sind die Beiträge in einem digitalen Garten freier und eher work-in-progress. Es ist eine Sammlung wachsender Ideen, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln.
Im Gegensatz zu klassischen Websites oder Blogs ist ein digitaler Garten offener, ungeordneter und weniger auf Perfektion ausgelegt.
Hier eine kleine Gegenüberstellung:
| Blog | Digitaler Garten |
|---|---|
| Lineare Struktur: Chronologisch (nach Datum sortiert) | Nicht-linear Struktur: vernetzt, thematisch verknüpft |
| Ziel: Fertige Inhalte veröffentlichen, Expertise zeigen, sichtbar werden | Ziel: Wissen pflegen, Gedanken entwickeln, unfertige Denkprozesse teilen |
| Hoher Druck: Inhalte müssen „rund“ und „poliert“ sein | Geringer Druck: Beiträge dürfen halbfertig und explorativ sein |
| Fremdbestimmt: oft angepasst an Algorithmen bzw. SEO, Fokus aus Außenwirkung | Selbstbestimmt: subjektiv, organisch, nicht auf Likes ausgerichtet |
| Ähnlich wie: Magazin, Bühne, Schaufenster | Ähnlich wie: Skizzenbuch, Gewächshaus, Denk-Lab |
Diese „Erlaubnis“, keine perfekten Inhalte veröffentlichen zu „müssen“, empfinde ich als spannendsten Ansatz. Denn ich neige zu lähmenden Perfektionismus und chronischer Vergleicheritis. Alles Gründe, warum ich Instagram seit bereits zwei Jahren den Rücken gekehrt habe und es keinen Tag bereue.
Der Druck zu performen
Dennoch will es mit dem Bloggen auch nicht so richtig klappen. Woran liegt das? Für mich habe ich diese Gründe identifiziert:
- Ich fange ständig an, neue Blogartikel zu schreiben (derzeit liegen 20 Entwürfe in meiner digitalen Ablage), weil mich viele Themen interessieren und ich schnell zu etwas anderem springe. Der Artikel ist dann meist zu 80 % fertig – aber eben nicht zu 100 %.
- SEO und Keyword-Recherche sind sehr große Hürden, weil ich es als extrem langweilig und zu eingrenzend empfinde (und es ja eigentlich für jeden Artikel gemacht werden sollte).
- In meinem Kopf ist Selbst-Vermarktung der Endgegner. Ich stehe nicht gerne im Vordergrund und möchte mich nicht aufdrängen (ja, ich weiß – kein Business-Mindset und so). Da ich kein Social Media mehr nutze, „muss“ ich eben gute Artikel schreiben, um gerankt und gefunden zu werden. Aber dieser innere Zwang nimmt mir alle Leichtigkeit und Spontaneität.
Und dann bin ich auf die Idee des digitalen Gartens gestoßen und war direkt angefixt:
- Work-in-progress teilen statt perfekt formulieren.
- Spontan Ideen nachgehen statt nach Plan schreiben.
- Selbstbestimmes Teilen von Wissen statt sich fremdbestimmt nach außen präsentieren.
Re-Framing nimmt den Druck raus
In einem anderen Setting zu schreiben – nämlich in meinem Obsidian Vault aka meinem digitalen Denkraum und nicht direkt in WordPress oder einem einschüchternden leeren Word-Dokument – hat mir den Druck genommen, aus einer Idee auch einen ganzen Blogartikel schreiben zu müssen.
Ich schreibe einfach, sammle Ideen, Gedanken und interessante Links. Vielleicht wächst daraus ein ganzer Artikel oder ein kurzer Impuls, vielleicht aber auch nicht.
Um in der Metapher des Gartens zu bleiben: Die Ideen wurden gesät und warten darauf, dass sie gepflegt werden. Aber wie es so in einem echten Garten ist, wachsen manche Samen nicht, weil sie nicht das Potenzial dazu haben, zu ganzen Pflanzen (metaphorisch für die Blogartikel) heranzuwachsen. Und das ist vollkommen ok.
Ich finde es immer wieder erstaunlich, was ein simples Re-Framing alles an der eignen festgefahrenen Denkweise ändern kann. Denn ich habe nur die Plattform bzw. das Programm gewechselt, in dem ich schreibe. Aber dieser kleine Schritt, hat meine innere Blockade – nämlich perfekte Artikel schreiben zu müssen – gelockert.
Der digitale Garten als Gegenentwurf zum überkommerzialisierten Internet
Das Internet wird zunehmend von Algorithmen, Clickbait und Selbstinszenierung geprägt. Die sogenannten Enshittification (externer Link) beschreibt hier das Phänomen, wie Plattformen durch Gewinnmaximierung langfristig unbenutzbar werden. Das Worldwide Web fühlt sich einfach zunehmend überladen, laut und fremdbestimmt an. Wo bleibt also Raum für persönliche Entfaltung, kreative Vielfalt und echte Verbindung?
Statt also Content zu produzieren, der für Plattformen und Reichweite optimiert ist, lädt uns der digitale Garten dazu ein, für sich selbst zu denken, zu schreiben und zu sammeln. Ohne den Druck der Selbstvermarktung, sondern einfach an der Freude an Wissen. Diese Herangehensweise entzieht sich bewusst der Logik von Social Media.
Dein persönlicher digitaler Garten darf bewusst chaotisch, unfertig oder fragmentarisch sein. Du entscheidest,
- was du veröffentlichst,
- wie du es gestaltest,
- und wann du es teilst.
Das hört sich doch fast wie eine kleine Rebellion für mehr digitale Selbstbestimmung an, oder? Abseits von Google-Ranking, Likes und dem Druck zu performen.
Vielleicht ist der digitale Garten (noch) ein Nischenthema, aber er ist auch ein Zeichen dafür, dass sich immer mehr Menschen qualitative Inhalte, echte Verbindung und individuelle Ausdrucksformen wünschen.
Gerade für neurodivergente Menschen und alle, die sich im schnellen, lauten Internet nicht zu Hause fühlen, kann er ein spannender Gegenentwurf sein.
Für mich heißt es nun:
Ich blogge wie ich denke: chaotisch, wachsend, unperfekt.
Dieser Beitrag wächst weiter
In diesem Text teile ich meine ersten Gedanken, die der Anfang eines größeren Essays über Digitale Gärten und Wissensmanagment sind.
Diese Fragen möchte ich weiter vertiefen:
- Wie sieht mein persönliches Set-up im digitalen Garten aus? Welche Tools nutze ich?
- Wie entwickelt sich ein Thema von der Idee bis zur Veröffentlichung? Wie entstehen neue Beiträge? Was passiert mit halbfertigen Texten? Gibt es typische Reifungsprozesse?
- Welche verwandten Konzepte inspirieren meinen Ansatz (z. B. Zettelkasten, Second Brain, Slow Blogging, Digitaler Minimalismus)? Undwie hängen sie zusammen?
- Warum ist der digitale Garten besonders hilfreich für neurodivergente Menschen? Welche Denk- und Arbeitsweisen unterstützt er? Was macht ihn barriereärmer?
- Wie gehe ich mit SEO, Reichweite und Sichtbarkeit um? Was stresst mich an klassischen Sichtbarkeitsregeln? Welche Alternativen habe ich für mich gefunden?
- Wie sieht mein Schreibprozess ehrlich aus – mit allen Hürden und Umwegen? Was hilft mir gegen Perfektionismus? Wie gehe ich mit unfertigen Gedanken um?
- Was wächst schon? Welche Beiträge, Themenstränge oder Fragmente sind bereits Teil meines Gartens? Welche Kategorien haben sich gebildet?
